Wie oft habe ich in meiner Arbeit als Coach (und natürlich auch außerhalb meiner Arbeit) Menschen kennengelernt, die noch als Erwachsene Begründungen dafür parat haben, warum bestimmte Umstände sie daran hindern, ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Bspw. die genossene Erziehung durch die (bereits verstorbenen) Eltern, der blöde Chef oder die „Politik“.
Um es mal in aller Deutlichkeit zu sagen: Das ist zu 100 % Identifikation mit einer Opfergeschichte. Und 0 % Übernahme von Verantwortung!
Wenn du nicht Teil des Problems bist, kannst du auch nicht Teil der Lösung sein. Daher ist es an der Zeit, dass du die Verantwortung für dein Leben, deine Umstände und vor allem für deine Zukunft (wieder) an dich nimmst! Und ein neues Narrativ über dich und „deine Geschichte“ entwickelst.
Was ist ein Narrativ?
Ein Narrativ ist eine Erzählung, die bestimmte Ereignisse auswählt, diese für bedeutsam erklärt und zwischen ihnen einen Sinnzusammenhang stiftet. Das kannst du dir vorstellen wie bei einem Film, den du über dein Leben drehen willst: Was ist die Story und was sind die Schlüsselszenen des Films? Welche Szenen werden überhaupt dargestellt und welche ausgelassen? Ist der Film ein Actionfilm, ein Drama oder eine Komödie?
Ohne es bewusst zu steuern, konstruieren wir ein Drehbuch unseres Lebens. Eine Geschichte, die wir so oder so ähnlich immer wieder erzählen und für unser Leben selbst halten.
Dieses Narrativ, also die sinnstiftende Erzählung, hat Einfluss darauf, wie dein Leben und die eigene Umwelt wahrgenommen werden. Interessanterweise ist bei einem Narrativ weniger der Wahrheitsgehalt bestimmend dafür, ob wir ein Narrativ annehmen oder nicht, sondern die Strahlkraft, die dieses ausstrahlt. Damit ist hauptsächlich die Vermittelbarkeit gemeint. D. h. wie sehr wir dieses als stimmig erachten und wie gut es sich zur Erklärung von Sachverhalten eignet.
Narrative eignen sich hervorragend, um (politische) Ideen umzusetzen oder Menschen dazu zu bringen, bestimmte Dinge zu kaufen (durch Marketing werden bspw. bestimmte Narrative erzeugt). Und auch während und nach Beziehungen sind Narrative am Werk: Bist du frisch verliebt, dann hast du eher eine Helden- oder Göttinnengeschichte zu erzählen von deiner Partnerin / deinem Partner. Nachdem Schluss ist, ändert sich dein Narrativ in eine Täter:in Geschichte … Im Folgenden soll es jedoch um den psychologischen bzw. persönlichen Nutzen deines Narratives gehen.
Tatsächlich ist das Neuschreiben deiner eigenen Geschichte einer der Ansätze, der auch in Psychotherapien, bspw. nach desolaten Kindheiten oder Traumata, genutzt wird und sehr gut funktioniert.

Wie erkenne ich mein persönliches Narrativ?
Wir konstruieren uns unsere Identität, besser gesagt unser EGO bzw. die Geschichte darüber, wer wir sind, aus
- unserem Geburtsort, unsere Konfession, unserem Wohnort, unserem Hobby.
- unserem Körper („Ich habe Krankheit XY“ oder „Ich bin krank“, bzw. solange wir (noch) gesund sind „Ich bin sportlich“ oder „Ich habe schwere Knochen“).
- unserem Intellekt („Ich bin Akademikerin“, „Ich bin Philosoph“, oder „Ich weiß dieses und jenes“, „Ich habe gute Noten in … oder einen Abschluss in …“).
- unserem Beruf, Tätigkeiten oder Ausbildungen („Ich bin Jurist“, „Ich bin Lehrerin“ oder „Ich bin Künstlerin“).
- unseren Besitztümern („Ich fahre einen Porsche“ oder „Ich habe dieses Haus gekauft. In 17 Jahren ist der Kredit abbezahlt und es ist meins“).
- einer spirituellen Identifikation („Ich bin ganz anders als all diese einfältigen, materialistischen Menschen“, „Ich bin Schüler dieser oder jener Praxis/Denkrichtung“ oder noch egobehafteter „Ich bin erleuchtet“).
- etwas ganz anderem, willkürlichem.
- und nicht selten aus einer Kombination all dieser Dinge.
Aber das ist alles nicht, wer du bist! Es sind Bestandteile deiner Geschichte über dein Leben, welches deiner Meinung nach vielleicht hart ist und bei welchem du es auch schwerer hattest als andere Menschen. Du wurdest unfair behandelt und die Götter meinten es nicht gut mit dir. Oder zumindest deine Eltern, denn wären diese anders/besser gewesen, wäre dein Leben auch anders verlaufen.
Vielleicht erzählst du dir aber auch die Geschichte, dass du was Besonderes bist. Auf jeden Fall besonderer, als viele andere Menschen. Nur verstehen dich die Menschen nicht und haben deine Einzigartigkeit noch nicht erkannt.
Eckert Tolle nennt solche mentalen Konstruktionen „Schmerzkörper“. Er versteht darunter die Summe des Leidens, das wir im Laufe unseres Lebens ansammeln und zu einer kohärenten Geschichte verdichten. Wenn dich das vertiefend interessiert, kannst du es beispielsweise in seinem absolut empfehlenswerten Buch „Eine neue Erde: Bewusstseinssprung anstelle von Selbstzerstörung“ nachlesen.
Aber warum nutzen wir überhaupt solche Geschichten?
Weil sie uns – und anderen – Orientierung und Sicherheit geben. Derartige Narrative haben einen Nutzen!
Es liegt wahrscheinlich auch Wahrheit in der Geschichte, die du dir und anderen erzählst. Draus jedoch eine Identität zu bauen, die unumstößlich ist, ist ein grober Fehler! Das Drama daran ist, dass du dich damit identifizierst und dich selbst – der oder diejenige, der/die du wirklich BIST – aus den Augen verlierst. Durch deine Geschichte identifizierst du dich mit Rollen bzw. spielst eine Rolle.
Machen wir mal ein kleines Experiment: Antworte mir (oder dir selbst, du sitzt ja gerade schließlich vor einem Bildschirm) auf die Frage „Wer bist du?“, jedoch OHNE dich dabei auf die Vergangenheit oder aktuellen Besitztümer zu beziehen.
Wer bist du? Jetzt gerade?
…
Wahrscheinlich ratterte dein Verstand auf der Suche nach einer neuen Geschichte, die jene ersetzt, die ich dir gerade genommen habe. Wenn du diese Übung jedoch richtig gemacht hast, solltest du nur pure Präsenz gespürt haben.
Etwas, was gar keine Worte benötigt, um es zu beschreiben. Etwas, was gar keine Konzepte braucht, weil es einfach nur IST.
Frei von irgendeiner Geschichte, die du dir erzählst. Und die dich gefangen hält.
Und wenn du diese Geschichte nicht benötigst, bzw. in der Lage bist, sie loszulassen, dann bist du auch in der Lage, eine neue Geschichte zu schreiben (auch wenn du diese eigentlich gar nicht brauchst).
Jedoch ist es besser, eine für dich dienliche und flexible Geschichte zu haben, anstatt eine eingefahrene.

Wie verändere ich mein persönliches Narrativ?
Der erste Schritt ist, dir deinem Narrativ bewusst zu werden. Dir bewusst darüber zu werden, dass deine Geschichte, die du über dich selbst erzählst, nur ein mentales Konstrukt ist.
Der Professor für Psychiatrie Dr. med. Daniel Siegel spricht in seinem gleichnamigen und sehr lesenswertem Buch „Mindsight: Die neue Wissenschaft der persönlichen Transformation“ (Amazon Link) von einer konzentrierten Aufmerksamkeit nach innen, welche die Abläufe des eigenen Geistes offenbart. Dadurch werden innere Prozesse bewusst, ohne dass man durch diese mitgerissen wird, sich also damit identifiziert. Wie ein:e neutrale:r Beobachter:in schaust du einfach neugierig nach innen, und beobachtest Gedanken und Gefühle, statt dich mit diesen zu identifizieren.
Dafür braucht es laut Siegel Offenheit, Selbstbeobachtung und Objektivität:
Offenheit als Haltung bewirkt, dass du für ALLES empfänglich bist, was in dir passiert.
Durch Selbstbeobachtung sorgst du dafür, dass du wahrnimmst, was in dir passiert.
Und Objektivität ist wichtig, damit du wahrnimmst, ohne dich an vorgefertigte Meinungen zu klammern, wie etwas sein sollte.
So hast du die Möglichkeit, dein Narrativ zu erkennen und löst dich von den inneren Gedankenschleifen und Gefühlsachterbahnen, in denen du normalerweise verharrst.
Beispielsweise ist es ein großer Unterschied, ob du „Ich bin traurig“ wahrnimmst, und dich durch die Trauer definierst, oder ob du „Ich empfinde Trauer“ sagst/denkst. So ähnlich beide Sätze auch klingen, in der zweiten Version erkennst du die Trauer und lässt diese ebenso zu, wirst aber nicht mehr davon verzerrt. Die Empfindung der Trauer ist in dem zweiten Fall eine Momentaufnahme und keine Facette deiner Identität.
Laut Siegel erlaubt diese bewusste Innenschau, Prozesse, Gedanken, Gefühle und Verhalten zu beobachten und genau dadurch auch im zweiten Schritt bewusster zu steuern.
Durch die Disidentifikation, also des Loslassens des „So bin ich eben“, entsteht eine neue Entscheidungsfreiheit, die vorher nicht da war. Plötzlich macht es dich zum Schöpfer deiner Umstände – auch der inneren – anstatt als Opfer zu verharren.
Insbesondere wirst du zum Autor deiner eigenen Lebensgeschichte, anstatt zum passiven Leser bzw. zum Konsumenten dieser.
Schreibe dein Narrativ neu!
Was sich vermutlich wie eine „feel good“ pseudo Psychologie anhört, ist tatsächlich gut erforscht und erwiesen. Mit den Neurowissenschaften bspw. lässt sich nachweisen, dass tatsächlich geistige und emotionale Veränderungen stattfinden. Neurowissenschaftler sprechen hier von Neuroplastizität, also der Fähigkeit, dass sich unser Gehirn (selbst im Alter, also ein Leben lang!) verändern und (neu) formen kann.
Genau wie Mediation schafft die Lenkung deiner Aufmerksamkeit nach innen neue Nervenbahnen. Gehirnregionen werden anders als durch deine bisherige Geschichte stimuliert. Es ist metaphorisch gesprochen tatsächlich so, als würdest du durch deine Gedanken eine Gehirnoperation an dir durchführen. Das ist auch der Grund, warum du durch ein persönliches Coaching so gute Ergebnisse erzielen kannst.
Jedoch ist die bewusste Innenschau keine magische Pille, die du einmal zu dir nimmst, sondern eher eine Fähigkeit, die es zu kultivieren gilt.
Die Fähigkeiten dazu besitzt du bereits, wie jeder Mensch. Du kommst als Mensch mit Muskeln zu Welt, nur macht dich das nicht automatisch zum Spitzensportler. Du wirst erst zum Athleten, wenn du bewusst Fähigkeiten und deinen Körper trainierst.
Genauso verhält es sich beim Neuschreiben deiner Geschichte: Es braucht jedes Mal bewusste Aufmerksamkeit und ein Gegenlenken, wenn du merkst, dass du (wieder) deine Opfergeschichte erzählst.
Auf das Erkennen folgt der zweite Schritt, dir eine neue Geschichte zu schreiben oder deine bestehende zu modifizieren. Bzw. einfach aufzuhören, eine nicht dienliche Geschichte über dich selbst zu erzählen wie
- „Ich bin verkopft“ (und damit nicht zu versuchen, Empathie oder Selbstempathie zu leben und dadurch einen besseren Zugang zu deinen Emotionen zu erhalten).
- „Ich mag nur Jazz-Musik“ (und dich auf einer Party, auf der andere Musik läuft, unwohl zu fühlen / zu langweilen, weil du dir Offenheit für Andersartigkeit verwehrst).
- „Ich kann mir Namen einfach nicht gut merken“ (und dir durch deine Legitimation deiner Unachtsamkeit nicht mal mehr die Mühe machst, wertschätzend mit Informationen anderer Menschen umzugehen).
- oder deiner eigenen Version derartiger Narrative.

Schreibe bzw. erzähle Geschichten über dich, die deinen Zielen im Leben dienlicher sind. Geschichten, mit denen du dich besser fühlst, weil du dich eben nicht mehr mit deinem „Schmerzkörper“ identifizierst. Stattdessen ein Schöpfer, ein Autor oder eine Autorin deiner neuen Gesichte wirst. Ein neues Narrativ deiner Selbst, welches eine gewisse Flexibilität besitzt, weil es neue Aspekte integrieren kann.
Die viel interessantere Frage, die du dir stellen solltest, ist: „Wer will ich sein?“ und diese zu deiner neuen Antwort auf dein „Wer bin ich?“ machen.
Wenn du dich mit Persönlichkeitsentfaltung beschäftigst (und/oder meinen Coaching Blog liest), dann weißt du, dass Entwicklung immer von Innen nach Außen her passiert. Du änderst deine Glaubenssätze über dich, also deine Geschichte, dann ändert sich automatisch auch
- dein Verhalten,
- deine emotionale Welt als auch
- deine Resultate im Außen.
Jetzt, da du (hoffentlich) etwas Distanz zu deinem bisherigen Narrativ über dich selbst hast, kannst du dieses als Beobachter:in betrachten (und nicht mehr als Verstrickte:r) und hast nun die Möglichkeit, etwas zu verändern.
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